1
Freitag, 14:00 Uhr
Die Maschine zwischen seinen Beinen surrte kaum hörbar. Julian gab langsam Gas. Er folgte dem Kleinwagen, den die Frau in Richtung Innere Stadt steuerte.
Er musste mehr über diese Heuschrecke erfahren, denn sie konnte Luc gefährlich werden. Er musste herausfinden, wo sie wohnte und ob der Typ, mit dem sie manchmal in der Mühlgasse auftauchte, ihr Mann, ihr Freund oder nur einer ihrer Mitarbeiter war. Er musste etwas über ihre Gewohnheiten erfahren, über ihr Leben; und es galt, einen Ort zu finden, an dem er ihr gefahrlos auflauern konnte. Boris wollte es so.
Das Vorderrad der Honda berührte fast die Stoßstange ihres Polos. Die Frau war hübsch, aber zu dürr, jedenfalls für seine Begriffe. Er hatte sie beobachtet. Mit ihren langen Gliedmaßen kletterte sie wie eine Spinne auf der Baustelle über Gerüste und Leitern. Wenn sie den Schutzhelm ablegte, standen ihre schwarzen Stichelhaare wild nach allen Seiten. Mit ihren Fingern fuhr sie sich dann erfolglos durch die Frisur. Immer trug sie Jeans und kommandierte die Männer auf der Baustelle herum. Ekelhaft.
Sie war ahnungslos.
Als er auf den Straßenbahngleisen an ihr vorüberzog, warf sie ihm einen Seitenblick zu und schüttelte kurz den Kopf. Gefiel ihr sein Fahrstil nicht? Ihr würde vieles an ihm nicht gefallen, wenn sie wüsste, was er vorhatte.
Diesmal wartete er an der Ecke einer kleinen Seitengasse und stieg ab. Er öffnete den linken Seitenkoffer und tauschte seinen schwarzen Helm gegen einen roten, seine schwarzen Handschuhe gegen rot gestreifte.
Der Bus hatte längst die Schönbrunner Straße verlassen. Die an der Ampel gestaute Kolonne setzte sich langsam in Bewegung. Julian saß wieder auf und hielt Ausschau. Er entdeckte den Polo und drehte am Gasgriff. Er fädelte die Maschine zwischen den dahin rollenden Fahrzeugen ein. Drängte näher an den Wagen.
Er musste Luc vor dieser Frau schützen. Nur allzu gerne hätte er sie selbst überwältigt und ihren Körper ans nächste
Gerüst gefesselt, die Jeans aufgeschlitzt, den zerfetzten Pulli in ihr offenes Maul gestopft. Ihr den Helm über den Kopf gestülpt, das Visier wie eine Maske auf ihr Gesicht gepresst, ihre Schreie
erstickt. Aber der Mann fürs Grobe war Boris, und der würde sie später auch töten. Julian musste nur dafür sorgen, dass alles glattging.
2
Montag, 16:00 Uhr
„Frau Wolenski!“
Göllner kam schnaufend auf Xenia zu.
„Dieser Trottel hat ein falsches Geländer montiert! Wozu bezahle ich Sie als Architektin, wenn Sie sich um nichts scheren?!“ Göllner roch nach Zigarren und einem teuren Parfum, das zu ihm passte wie die Faust aufs Aug. Xenia mochte ihn nicht. Vor einem Monat hatte ihr ein Elektromonteur geflüstert, dass Göllner im Rotlichtmilieu verkehre. Aber das war vielleicht nur ein Gerücht.
Sie ging ins Haus, stapfte die Stiege hinauf und trat auf die Dachterrasse. Göllner keuchte hinter ihr her. Sie hätte den Auftrag nicht annehmen sollen und schon gar nicht die fünftausend Euro Schwarzgeld als Anzahlung. Scheiße, sie hatte das Geld so dringend gebraucht! Und ein nächster Auftrag war kurzfristig nicht in Sicht. Ihre Mappe aus Plastik fühlte sich glitschig an. Sie wischte den Schweiß ihrer Hände an den Jeans ab.
„Das Geländer ist in Ordnung“, sagte sie. „Der Handlauf wird in drei Tagen montiert.“ Es war Ende August, sie waren im Zeitplan. Wenn Göllner jetzt noch etwas anderes bestellte, würde die Lieferung mindestens vier Wochen dauern. Und genauso lange würde Göllner sie auf ihr Honorar warten lassen. Dabei konnte sie ihren Mitarbeiter kaum mehr bezahlen.
Göllner schlug mit der Faust gegen die Glasscheibe, die vor dem Geländer montiert war. „Glas! Ich hab kein Glas bestellt!“
„Doch.“ Sie nahm den Plan aus dem Ordner und entfaltete ihn. Göllner riss ihn ihr aus der Hand.
„Wo bitte“, sagte er und stocherte mit dem Zeigefinger gegen das Papier, „wo bitte ist hier Glas?“
Xenia ergriff eine Ecke des Plans und fuhr mit dem Finger eine Linie entlang.
„Wie soll ich wissen, was diese blöden Linien auf den Plänen bedeuten?! Oder diese Scheiß-Abkürzungen!“
„Sie haben die Ausschreibung und den Auftrag gelesen und unterschrieben, Herr Göllner.“
„Verdammt, ich hab was anderes zu tun, als Ihr Geschreibsel zu lesen! Wozu stehen Sie hier herum, wenn ich alles selber kontrollieren muss?! Ihr Fachchinesisch versteht doch sowieso kein Mensch!“
„Ich hab es Ihnen aber erklärt.“
Göllner schleudert den Plan gegen das Geländer, Xenia fing ihn auf. „Nichts haben Sie!“ Sein Gesicht lief langsam rot an.
Von diesem Mann war sie abhängig! Neureich, gierig, unterste Schublade!
„Doch.“ Sie versuchte, ihrer belegten Stimme einen selbstsicheren Ton zu geben, obwohl sie im Innersten zitterte. „Sie wollten keine senkrechten Sprossen, sondern waagrechte dünne Seile. Erinnern Sie sich? Ich habe Ihnen erklärt, dass wir dann ein Glas davor montieren müssen. Das ist leider Vorschrift.“
„Idiotisch!“
„Wegen der Kinder.“ Sie zwang sich, nicht in seine Lautstärke zu verfallen. „Auf den Seilen könnten Kinder hinaufklettern und abstürzen.“
„Ich habe keine Kinder.“
„Sie vielleicht nicht, aber es könnte jemand mit Kindern zu Besuch kommen. Für Wohngebäude schreibt die Behörde das Anbringen von Glasscheiben vor waagrechten Sprossen oder Seilen vor.“
Er fasste den Rand des Glases und rüttelte daran. Das Geländer dröhnte. „Ich will hier kein Glas!“
Beruhige dich, sagte sich Xenia, der Mann ist den Ärger nicht wert. „Okay. Ich ruf den Schlosser an. Wir könnten statt des Glases ein engmaschiges Gitter nehmen ...“
„Ich will auch keinen engmaschigen Scheiß hier. Und noch eins: Ich zahle keinen Cent für das Glas! Das geht auf Ihre Rechnung!“
Xenias fand kaum die richtigen Tasten auf ihrem Handy. Alles war beschissen. Nichts würde auf ihre Rechnung gehen. Sie hatte Göllners Unterschriften. Sie hatte ihm alles genau erklärt, auch das mit dem Glas, und der Schlosser würde ihr Zeuge sein.
„Hier Xenia Wolenski. Kann ich Ihren Chef sprechen?“
Nach einer Weile meldete sich der Meister, aber ehe sie zwei Worte zu ihm sagen konnte, riss ihr Göllner das Telefon aus der Hand.
„Herr Edlinger! Das Glas können Sie sich in den Arsch schieben!“ Das schien ihn zu erleichtern, und er gab Xenia das Handy zurück.
„Herr Edlinger, ’tschuldigung, es tut mir leid. – Können Sie morgen um acht hier sein?“ Sie deckte das Mikrofon des Handys ab und wandte sich an Göllner: „Ist Ihnen morgen um acht recht?“
„Das ist Ihr Problem“, sagte Göllner. „Wieso brauchen Sie mich dazu?“
Sie sprach wieder ins Telefon und vereinbarte mit dem Schlosser den Termin.
„Wenn ich wiederkomme“, sagte Göllner, „will ich das Glas nicht mehr sehen. Verstanden?!“
Göllner bückte sich nach der schweren Eisenstange, die auf der Abdeckplane lag, damit sie der Wind nicht davontragen konnte. Mit beiden Händen schwang er die Stange wie eine Keule gegen die Glasscheibe. Ein kurzes, lautes Dröhnen, das Glas hielt stand. Dann sirrten nur mehr die Stahlseile.
„Sicherheitsglas.“ Hastig faltete Xenia den Plan zusammen und steckte ihn zurück in den Ordner.
Göllner warf ihr einen giftigen Blick zu. Ein zweites Mal ließ er die Eisenkeule gegen das Glas donnern, der gleiche Erfolg.
„Ich habe einen Termin im Büro“, log sie.
Göllner holte zum nächsten Schlag aus, hielt aber mitten in der Bewegung inne.
„Verschwinden Sie.“
Während sie mit zitternden Knien die Stiege ins Erdgeschoß hinunterging, horchte sie auf weitere Schläge. Gab er auf? Suchte er nach einem wirkungsvolleren Werkzeug? Was, wenn sie morgen nur mehr vor einem Trümmerhaufen stehen würde? Sie wollte gar nicht daran denken. Es waren ihre Arbeit, ihre Ideen, ihre Pläne. Dinge, auf die sie stolz war. Und Göllner wollte alles ruinieren!
Sie schlich davon. Die Gartentür fiel hinter ihr ins Schloss.
Ihre Karriere hatte sie sich anders vorgestellt, als gleich mit ihrem zweiten Bauherrn in Clinch zu geraten. Sie war nicht mehr ganz sicher, ob sie bei einem Streit vor Gericht recht behalten würde. Es würde Aussage gegen Aussage stehen. Und was, wenn dabei auch herauskam, dass sie Geld ohne Rechnung von ihm angenommen hatte? Dass sie Steuern hinterzog? Dass sie Göllner ermöglichte, Schwarzgeld auszugeben? Beihilfe zu Geldwäscherei oder wie man das nannte. Es war ein lächerlicher Betrag, jedenfalls für Geschäftsleute wie Göllner. Sie versuchte, diese Gedanken abzuschütteln.
Sie hielt den Atem an und lauschte nochmals. Die Schläge oben auf dem Dach waren verstummt. Hatte Göllner aufgegeben? Sie stieg in ihren Wagen, holte ihr Notizheft hervor und überlegte, was sie notieren sollte. Sie nahm gerade den Stift zur Hand, als sie im Rückspiegel einen Mann erblickte, der auf ihr Auto zukam. Es war nicht Göllner.
Der Mann klopfte ans Seitenfenster und deutete, sie möge es öffnen. Er war vielleicht Mitte dreißig und sah gut aus. Schwarzhaarig, etwas hager. Blass im Gesicht. Er trug einen Jogginganzug. Sie erinnerte sich, ihn schon öfter in der Nähe gesehen zu haben. Vielleicht der Nachbar von gegenüber.
Sie ließ die Scheibe herunter.
„Sind Sie die Architektin hier?“, fragte er und deutete zu Göllners Hecke.
„Wir sind fast fertig“, sagte sie.
„Das trifft sich gut. Ich möchte mein Haus umbauen lassen, das da gegenüber.“ Durchs Autofenster ergriff er Xenias Notizheft, nahm ihr den Kugelschreiber aus der Hand und schrieb einen Namen und eine Telefonnummer auf den hinteren Deckel des Hefts. Sie war derart überrascht, dass sie keinen Widerspruch hervorbrachte.
„Rufen Sie mich bitte bei Gelegenheit an.“ Er lächelte schüchtern, während er das Heft zurücklegte, und tippte noch an den kleinen Teufel, der als Maskottchen von ihrem Rückspiegel baumelte, und lächelte. „Nett“, sagte er.
Sie versuchte, tief durchzuatmen. Dann schielte sie nach seinem Gekritzel. Luc Diabelli stand auf dem Rücken des Notizhefts. Das war also der Besitzer dieser alten Villa gegenüber, die sie schon bewundert hatte. Er winkte ihr zu, als sie den Motor anließ. Sie legte den Rückwärtsgang ein und rammte beinahe Göllners Wagen. Scheiße! Sie riss das Lenkrad herum und stieß den Schaltknüppel in den ersten Gang. Die Räder drehten durch, während sie einen Alleebaum nur knapp verfehlte.
Der Mann draußen grinste.
Vorsichtiger fuhr sie weiter, steuerte ihr Auto Richtung Hauptstraße, blickte zwischendurch in den Rückspiegel. Der Mann hatte zu joggen begonnen, lief an seinem Grundstück vorbei und verschwand auf dem Fußweg, der vom Umkehrplatz zur Ebentalgasse hinunterführte.
3
Montag, 17:00 Uhr
Julian setzte den Sturzhelm auf und klappte das Visier herunter. Die Lederhandschuhe schützten seine Haut, während er das Loch im alten Maschenzaun vergrößerte, das er schon vor Wochen im Dickicht der Hecke entdeckt hatte. Er kroch durch die Öffnung. Nachher würde er den Draht wieder in die alte Position bringen.
Den Sand der Baustelle hatte der Wind bis hierher geblasen, und an den Blättern klebten die Staubränder verdunsteter Regentropfen.
Vom Göllner-Haus her klangen wiederholt Schläge, als prallten Metallteile gegeneinander.
Im Schutz der Dämmerung schlich Julian näher. Das Klirren kam von der Dachterrasse. Knirschende Geräusche wie von brechenden Knochen mischten sich unter die Schläge.
Julian ging um den Pool herum. Die Terrassentür stand einen Spalt offen. Er zwängte sich hindurch und stand in der Wohnhalle, die sich über zwei Geschoße erstreckte. Der Holzboden roch nach Öl, die Wände rochen nach frischem Anstrich. Noch immer drangen Schläge an Julians Ohren.
Mit dem linken – dem gesunden – Fuß nahm er jeweils drei Stufen auf einmal. Seine Schuhe quietschten. Erst als er die letzte Stufe erreichte, verstummten die Schläge. Er sprang hinaus auf die Dachterrasse.
Vorne am Sockel des Geländers trampelte dieser Göllner auf Glas herum, das in seltsam zusammenhängenden Splittern auf dem Boden lag. Die Stahlseile des Geländers hingen durch. Er hielt eine Eisenstange umklammert und fluchte. Erst als er sich mit einem karierten Taschentuch den Schweiß von der Stirn gewischt hatte, drehte er sich um.
„Was wollen Sie?“ Er runzelte die Stirn, blickte zweifelnd zu Julian herüber. „Wer sind Sie? Ein Freund von dieser Zementhure?“
Julian lachte und ging langsam auf ihn zu.
Der Mann wog die Eisenstange in seiner Hand. „Verschwinden Sie!“
Julian ließ die Stange nicht aus den Augen. Er näherte sich weiter dem Gegner, die Glassplitter knirschten auch unter seinen Schuhen. Ohne die Motorradhandschuhe auszuziehen, griff er nach der Stange, und entwand sie dem Hausherrn mit einem Ruck. Der riss bloß die Augen auf und hatte nicht mehr genug Kraft sich zu wehren. Boris war nicht da, manchmal musste Julian eben selbst eingreifen. Auch wenn er töten musste.
„He! Was machen Sie?!“ Ein jämmerlicher Versuch.
Julian schlug ihm mit der flachen Hand gegen die Brust. Göllner schnappte nach Luft. Er stolperte rückwärts und blieb mit dem Fuß in den Eisenabfällen und Glasschwertern hängen.
„Sind Sie verrückt?! Was wollen Sie?!“ Die Stimme überschlug sich.
Julian stieß ihm die Eisenstange gegen die Brust. Göllner hob die Arme, ruderte in der Luft. Er streckte die Arme nach dem halb zerstörten Geländer aus. Tja, wenn da bloß noch etwas zu greifen wäre ... Seine Beine verfingen sich in den Seilen, die sich unter seinem Gewicht wieder spannten, seine Knie knickten ein. Einen Augenblick lang schien er zu schweben, dann kippte er. Kurz schrie er auf und verschwand in der Tiefe.
Ein dumpfer Aufprall.
Nur einen Augenblick lang hielt Julian inne, ehe er mit der Eisenstange in der Hand hinunterging. Auf den Steinstufen vor dem Hauseingang lag Göllner, mit verdrehten Gliedern und einer tiefen Wunde am Kopf. Blut und Haare klebten an der Kante der obersten Stufe.
Julian zog das eben benutzte Taschentuch aus der Jackentasche seines Opfers heraus und wischte damit das Ende der Eisenstange ab. Das andere Ende umhüllte er mit dem Tuch. Dann stieg er wieder hinauf auf die Terrasse. Mit dem abgewischten Ende der Stange stocherte er ein paarmal im Abfallhaufen, sodass Metallspäne und Papierfetzchen daran hängen blieben, bevor er die Stange mit einer lockeren Handbewegung über die Brüstung warf. Das Taschentuch steckte er ein. Er würde es später verbrennen.
Boris an seiner Stelle hätte es auch nicht geschickter gemacht.
Als er das Grundstück durch die Gartentür verließ, näherte sich im Westen die Sonne der dunklen Silhouette des Wienerwalds. Etwas anderes als die Sonne blendete ihn.
4
Dienstag, 08:30 Uhr
Bertl Behringer betrat sein Büro im LKA Graz. Er stellte den Schirm, den er wegen der angesagten Gewitter zur Sicherheit mitgenommen hatte, im Papierkorb ab. Sofort entdeckte er inmitten seiner quadratischen Haftnotizen einen Zettel in Form einer Sprechblase. Die Schrift konnte er kaum lesen. Er holte seine Lesebrille aus seiner Brusttasche hervor und tauschte sie gegen die Fernbrille.
Wien, Mühlgasse 29.
Ferri, der am Tisch gegenüber saß, räusperte sich. „Guten Morgen, Bertl. Vor einer halben Stunde hat dein Freund aus Wien angerufen. Er sagt, du kennst diese Adresse.“
Mühlgasse. Die Nummer 30 kannte er.
Er hängte seine Jacke über die Sessellehne. Die Walnüsse, die ihm Jenny in seine Jackentasche gesteckt hatte, klapperten leise. Nüsse, weil er sie gerne aß und das Kauen manchmal sein Gegenüber verunsicherte. Er setzte sich langsam und griff nach seinem Handy. Während er Pauls Privatnummer wählte, verschwamm die Schrift auf der Sprechblase vor seinen Augen. Mühlgasse. Seit sechzehn Jahren stiegen unangenehme Erinnerungen in ihm auf, wenn er diese Adresse las oder hörte.
„Hallo, Paul, was gibt es Neues?“
„Ich weiß nicht“, sagte Paul, „ob es wichtig ist, aber ich hab soeben einen Fall von Sikora übernommen: Es hat einen Toten gegeben in der Mühlgasse. Vom Dach gestürzt. Gegenüber von deinem Diabelli. Laut einem Zeugen ist Diabelli ungefähr zur gleichen Zeit von einer Ambulanz ins Unfallkrankenhaus gebracht worden, aber von dort ist er verschwunden Wir wissen noch nicht, ob das eine mit dem anderen etwas zu tun hat.“
Behringer steckte die Lesebrille wieder ein und ging zu der Wand, an der die Österreich-Karte hing. Seine Augen folgten der Strecke von Graz nach Wien. In ein paar Tagen würde er mit Jenny und den Jungen an den Lunzer See in Urlaub fahren. Er freute sich darauf, aber gleichzeitig ahnte er, es würde anders kommen.
„Ich hab ab nächster Woche Urlaub, aber vielleicht kann ich heute noch bei euch sein und das mit Diabelli klären. Ich ruf dich an, sobald ich weiß, wann ich mir freinehmen kann.“
Das mit Diabelli klären … Paul wusste, dass er heimlich immer noch an den Fall Klostermord dachte, den er damals nicht hatte aufklären können.
„Sikora geht bald in Pension und will den Fall sobald wie möglich abschließen. Natürlich ohne Fremdverschulden.“ Paul machte eine Pause und setzte gerade so laut fort, dass Behringer es hörte: „Und ohne deine Einmischung.“
„Du hast mich aber verständigt.“ Behringer lachte laut auf. „Dann komme ich, und rühre in der Suppe um. Wie gemein von mir.“ Er würde nicht umrühren; er wollte nur wissen, ob Diabelli diesmal wieder in einen Mord verstrickt war.
Er setzte sich wieder auf seinen Drehstuhl und lehnte sich zurück. Während er zum Telefon griff, um seinen Chef anzurufen, begannen seine Hände zu zittern. Wegen Diabelli hatte er sich nach Graz versetzen lassen. Er hatte es nicht ausgehalten, gegen einen Mann ermitteln zu müssen, dem er nicht mehr unbefangen gegenübertreten konnte. Nein, nicht nur wegen Diabelli, auch wegen Jenny war er hierher nach Graz gezogen. Schließlich hatte Jenny hier in der Nähe Verwandte. Offiziell war die Hochzeit mit Jenny die beste Ausrede gewesen, Wien den Rücken zu kehren und zu versuchen, den Mord an Pater Laurentius zu vergessen.
Vor sechzehn Jahren waren DNA-Tests für Privatpersonen noch unerschwinglich gewesen. Aber jetzt hatte er die Chance, Gewissheit zu erlangen. Er brauchte sich nur eine DNA-Probe von Diabelli zu beschaffen und mit seiner vergleichen zu lassen. Zweihundert Euro, und alle Zweifel wären aus der Welt geschafft.
„Ist das denn eine schlechte Nachricht, Behrin… Bertl?“
Behringer schreckte auf. „Wie lange bist du schon bei uns, dass dir das Bertl immer noch schwerfällt? Zwei Stunden?“
„An der Tür steht dein Vorname nur abgekürzt. Was bedeutet das B? Oder das Bertl?“
„Ist doch egal“, sagte Behringer. „Ich muss heute noch weg.“
Er schob die Akten auf seinem Schreibtisch zu einem Stapel zusammen. Dann steckte er den USB-Stick an seinen Büro-Laptop und kopierte seine Stundenliste.
„Warum bist du grantig? Hab ich dir was getan?“
„Ich habe Zahnweh“, log Behringer.
Er zog den Stick ab, klappte den Laptop zu und versenkte die papierene Sprechblase in seiner Jackentasche. „Aber ich werde den Chef ersuchen, dir jemanden ins Zimmer zu setzen, der weniger grantig ist als ich.“
Verdammt, warum ließ er sich so einfach die Laune verderben? Und warum ließ er seinen Frust an Ferri aus? Der Kleine hatte es nicht verdient.
Als er das Zimmer verließ, drehte er sich nochmals um und bemühte sich um ein wenig Freundlichkeit in der Stimme: „Tut mir leid, dass ich dich angeschnauzt habe. Ich heiße Bertram. Ciao, Ferri.“
Schon die Mitschüler im Gymnasium hatten über Bertram gelacht. Der glänzende Rabe? Doch eher der zerzauste Storch!
Seinem Chef versprach er, am Mittwochabend zurückzukommen, damit er die anhängigen Dinge noch vor seinem Urlaub erledigen konnte. Der Chef wünschte ihm gute Reise.
Doch was, wenn der Vaterschaftstest positiv ausfiel? Wenn er sich die Ähnlichkeit zwischen sich und Diabelli nicht nur eingebildet hatte? Die Größe, die Statur, die sehnigen Hände … Damals hatte auch er noch volles Haar gehabt.
5
Dienstag, 14:30 Uhr
Er stand am Fußende des Bettes und studierte die weiße Tafel. Ein Name stand da, mit Filzstift in Blockbuchstaben hingeschrieben, und in einer Klammer steckten Computerausdrucke und Befunde.
„Na also, Herr Diabelli“, sagte die Schwester und lächelte ihn an. „Wieder auf den Beinen.“ Sie rückte die Blumen in die Mitte des Tisches. „Ein ganzes Jahr lang waren Sie nicht mehr bei uns.“
Alles glänzte, und an der Wand gegenüber hing ein goldenes Kruzifix. Luxusklasse.
Er versuchte, sich an die Wirklichkeit zu erinnern. An Luc Diabelli, 35, Blutdruck 110/75. Er wollte keine medizinischen Daten, auch wenn sie ihn beruhigten. Er wollte in sein Leben zurückfinden. Den Spiegel neben der Tür mied er. Was, wenn ihm Erschreckendes entgegenschaute? Doch aus den Augenwinkeln sah er den Umriss eines vertrauten Körpers gegen das Tageslicht, die Schultern, den Kopf. Die kurzen schwarzen Haare standen nach allen Seiten. Nichts Beunruhigendes. Hatte er im Traum nicht eine Frau gesehen, deren Haar ebenfalls nicht gekämmt war? Doch dann, während er sich am Türrahmen festhielt, kippte das Bild zwischen schwarz und weiß:
Einen Herzschlag lang tauchte ein ausgebleichter Schädel auf, das ausgemergelte, graue Gesicht des Fahrers, der ihn mit einem Tritt über die Ladekante beförderte. Lucs Knochen krachten, die Fesseln schnitten in seine Gelenke. Der Graue beugte sich über ihn, schnauzte ihn an: „Steh auf! Hörst du?! – In deinem eigenen Interesse.“
Ein Tritt in die Nieren, doch der Klotz im Mund hinderte ihn am Schreien. Noch war es dunkel rundherum, nur die Scheinwerfer ließen ihn die Wachen erkennen, die ihn im Kreis umstanden. An ihren Armen glänzte rot das Blut.
Ende der Leseprobe